Der Release eines Spiels von Rockstar Games ist immer ein spezielles Event. Der Entwickler/ Publisher sitzt mit seinen Titeln schon seit Jahren, was Qualität angeht, immer wieder auf der Spitze der Industrie. Spiele wie Red Dead Redemption, die GTA-Reihe, aber auch ihre relativ unerfolgreichen Titel wie L.A. Noire treiben die Branche mit Innovation, Kreativität und Risikofreude an. Jeder Release setzt die qualitative Messlatte, anhand welcher vor allem Open-World Spiele betrachtet werden, immer eine Stufe höher. Unglaubliche perfekt entworfene und polierte Spielewelten, charismatische und witzige Dialoge, neue Spielemechaniken und Detailtiefen, an die sich bislang noch kein Entwickler sonst wagte.
Rockstars erstem, wirklichem Current-Gen Werk eilten vor der Veröffentlichung dunkle Wolken voraus. Die Mitarbeiter hätten Monate vor ihren Deadlines enorme Arbeitszeiten hinlegen müssen, für die sie nicht wirklich vergütet worden wären. Das Internet rumorte und brodelte, Rockstar bekam eine ordentliche Ladung an Beleidigungen und Protesten ab. Einige Mitarbeiter meldeten sich und bezeugten, diese Stunden aufgrund künstlerischer Ambition freiwillig abgeleistet zu haben, eine große Mehrheit jedoch berichtete von schrecklichem Arbeitsdruck und Bedingungen.
Für diese horrenden Arbeitsstunden, branchenintern auch „crunch“ genannt, ist die Gaming-Industrie heutzutage tatsächlich berühmt und berüchtigt. Beinahe bei allen AAA-Entwicklern lässt sich dieser „crunch“ finden und wird von vielen auch als essenziell gesehen. „Crunch“ ist laut Entwicklern und weiteren Branchenmitarbeitern schlicht nötig, um mit der heutigen Qualität und Quantität von Gaming mithalten zu können. Dies rechtfertigt sie natürlich nicht. Rockstar versprach nach dem Aufruhr Besserung und viel mehr Einfluss lässt sich von Seiten der Fans vermutlich nicht mehr erhoffen. Was uns übrig bleibt, ist das Endprodukt, zu dem Red Dead Redemption 2 letztendlich geworden ist, zu betrachten, zu genießen und die unglaubliche Arbeit, die hier drinsteckt zu respektieren. Der Boykott des Spiels, den einige vorschlagen, bewirkt nur, dass die Arbeit der Beteiligten umsonst gewesen ist. In was ist also diese enorme Mühe resultiert?
Eine Familie verbunden durch Liebe
Red Dead Redemption 2 geht seine Geschichte im Vergleich zum ersten Teil komplett gegensätzlich an. Während John Marston noch ein einsamer Cowboy war, der durch Rachegelüste getrieben über trockene Steppen ritt, ist Arthur Morgan hier umgeben von einer Bande, die ihn liebt und schätzt. Diese Wärme spiegelt sich in jeglicher Form in der Geschichte wieder: die Gesetzlosigkeit wird romantisiert, Arthur und seine Gefährten sind unglaublich sympathisch und nahbar geschrieben. Dies passt perfekt zum Grundprinzip der Story. Die Hauptgeschichte von RDR 2 ist nämlich in seiner Grundstruktur eine Erzählung einer Familie, die sich im Sturm des Lebens gefunden hat und nun versuchen miteinander durch dieses zu schreiten. Eine sehr warmes und eigentlich gutwilliges Grundkonzept, dass durch die romantisierte Gesetzlosigkeit, die Kriminalität und das Nomadentum der Gruppe teils kontrastiert, teils aber auch wunderbar ergänzt wird.
Rockstar erzählt seine Geschichte hier in einem absolut perfekten Tempo. Meistens verläuft das Abenteuer von Arthur und seiner Bande entschleunigt, melancholisch und warm. Man lernt seine höchst faszinierenden und wunderbar geschriebenen Bandenmitglieder und sich selbst mehr und mehr kennen, erledigt Aufgaben, die auf ersten Blick etwas banal erscheinen können, aber mit so viel Liebe und Vertiefung der Figuren gestaltet sind, dass selbst ein Angelausflug mit einem kleinen Jungen ein wunderschönes Erlebnis wird. Auch emotional vermag RDR 2 in diesen Momenten den Spieler so sanft, aber so effektiv zu berühren, dass man sich ernsthaft fragt, wie Rockstar das gerade gemacht hat.
Gelegentlich lässt RDR 2 aber die Bremse los und feuert aus allen Rohren mit spektakulären, dramatischen und noch emotionaleren Höhepunkten, die jegliche Konkurrenz in den Schatten stellt.
Die Geschichte von RDR 2 ist eine der besten, die Rockstar Games bislang abgeliefert hat. Arthur Morgan allen voran, aber auch die anderen Figuren, überzeugen mit fantastischen, einzigartigen und hervorragend geschriebenen Charakterzügen und Hintergrundgeschichten, die Hauptgeschichte, aber auch die vielen kleinen Nebengeschichten fangen den Spieler ein mit Herz, Verstand, Wendungen und emotionalen Treffern und wollen ihn nicht wieder loslassen. Die Inszenierung hält stets mit der Dramatik mit, die Stimmen sind absolut grandios gespielt, die Dialoge erfüllt von Witz, Tempo und einer Geschmeidigkeit, wie sie nur von Rockstar stammen könnte.
Die Ruhe der Natur und die Hektik des Lebens
Red Dead Redemption 2 ist generell langsam. Sehr langsam. Arthur bewegt sich meistens im Schritttempo, die Erzählung nimmt sich viel Zeit für seine Figuren und Welt. Die große Anzahl an Spielemechaniken entfalten sich langsam, Schritt für Schritt wird das Spiel vertieft. Es gibt viele Zwischensequenzen, Gespräche über triviale Dinge, Nebenquests, die nur atmosphärischer Natur sind. Schießen und Reiten, die beiden zentralen Spielelemente in RDR 2 sind knackig, werden aber von einem umständlichen Inventarsystem und Survivalelementen belastet. Manch einer mag all dies als „zäh“ und „nervig“, vielleicht sogar als „langweilig“ sehen. Berühmter Videospieljournalist Jason Schreier fragte auf Twitter sogar: „Welch anderes Blockbuster-Videospiel könnte damit davonkommen, so zäh und frustrierend zu sein? Und das sogar den zentralen Fokus des Spieles zu machen?“ Das Spiel sei nervig und zäh, aber es würde gleichzeitig auch genau deswegen funktionieren.
Spieler, die aber genau solche langsamen Spiele mögen, finden hier ein wundervolles Gameplaysystem, dass die allgemeine melancholische Atmosphäre von der Welt und die romantische Geschichte des Banditenlebens auf perfekte Weise ergänzt. Der Realismusgrad wird mit diesen „umständlich“ erscheinenden Mechaniken, und dazu noch mit einer unglaublichen Detailtiefe, auf ein enorm hohes Level gehoben, was direkt eine Verstärkung der Immersion nach sich zieht. Red Dead Redemption 2 ist langsam, ja, aber das aus einem sehr guten Grund.
Die Grundmechaniken des Spiels sind absolut solide bis hervorragend konstruiert. Das Schießen fühlt sich satt und befriedigend an, die Schadensanimationen der Gegner sind schlicht fantastisch. Das Reitgefühl balanciert auf einem Grad zwischen schwammiger und direkter Kontrolle, sodass sich das Pferd lebendig und eigenwillig genug anfühlt, ohne nervig zu werden. Allgemein ist es toll zu sehen, wie das Spiel dafür sorgt, dass nicht nur emotionale Verbindungen zu den Figuren, sondern auch zu den Pferden, Waffen und weiteren Objekten aufgebaut werden. Durch sehr viele individuelle Gestaltungsmöglichkeiten fühlt sich jedes Werkzeug und Pferd von Arthur an, wie ein Teil von ihm, dass man nur schwermütig aufgeben will.
Was Level- und Missionsdesign angeht, reizt RDR 2 alles aus was seine Welt und sein Gameplay hergeben und das ist sehr viel. Die Aufgaben sind abwechslungsreich, kreativ und mit hervorragend geschriebenen Geschichtchen versehen. Dazu sind sie so dynamisch in die Welt eingefügt, dass sie sich niemals künstlich oder überflüssig anfühlen. In den ruhigeren Momenten tragen die Grundmechaniken das Unterhaltungsniveau des Spielers vollkommen. Mitdenken des Spielers, genau so wie Experimentierfreudigkeit und Kreativität werden belohnt, das Spiel fühlt sich schlicht fantastisch an, selbst wenn man nur Jagen geht.
Das Resultat von Ambition und Mühe
Technisch kann kein Open-World Spiel Red Dead Redemption 2 das Wasser reichen. Die Texturen sind scharf, die Animationen von Individuen in der Welt und von der Natur selbst butterweich, die Performance fällt nur in seltensten Fällen knapp unter die 30 FPS Marke. In diesem technischen Bereich ist die riesige Arbeit, die die Rockstar Entwickler geleistet haben besonders gut sichtbar. Wettereffekte gehören künstlerisch zu den besten auf dem Markt. Die Fernsicht und das Rendering kleinerer Objekte und Texturen wird geschickt und geschmeidig versteckt. Die Musik ist meistens sehr zurückhaltend, ruhig und dreht nur selten auf,genauso wie das Spiel selbst, was aber in ein hervorragend stimmiges Gesamtprodukt an Präsentation resultiert. Auch die Beleuchtung, vor allem bei Nacht, setzt Rockstar auf so gute Weise ein, das die ohnehin schon perfekte Immersion noch eine Kirsche obendrauf erhält.
AN: Zur Bewertung
100% Wertungen sind schwierig. Allgemein sind jegliche Bewertungen mit Zahlen schwierig. Man bricht ein hochkomplexes, vielschichtiges Spiel wie Red Dead Redemption 2 auf eine Zahl zwischen 1 und 100 herunter. Ich persönlich hasse es übertrieben zu klingen. Ich hasse es Superlative wie „beste aller Zeiten“, „schönste aller Zeiten“ in Reviews einzubauen, weil diese Art von Formulierung schlicht in fast allen Fällen für provokante, nicht ernst zunehmende Aussagen benutzt werden. Ich hasse es sogar mich in einer Review als Autor persönlich zu melden, weil ich finde Reviews sollten stets die höchste Form von Objektivität anstreben und subjektive Aussagen wie „ich finde dass“ einfach für die meisten Leser unbrauchbar sind, weil sie mich nicht kennen und somit diese Meinungen nicht wirklich richtig verstehen können. Doch ich habe das Gefühl mich hier rechtfertigen zu müssen.
Natürlich hat Red Dead Redemption 2 seine Makel. Das Gameplay kann für manche zu zäh sein, die immens hohe Detailverliebtheit schlichtweg als unnötig, vielleicht sogar als hinderlich gesehen werden. Die Geschichte mag zu langsam sein, der Motion-Blurr in der Landschaft zu nervig. Wenn man sucht findet man überall Fehler und mögliche Kritik, und das sollte man auch, denn nur mit Kritik bringen wir Videospiele, die wir so sehr lieben, qualitativ vorwärts.
Kein Spiel ist perfekt. Doch hin und wieder kommt ein Spiel, dass einfach fast alles so richtig macht, dass man die kleineren Dinge vergisst. Ein Spiel, dass dich so sehr einfängt und in seinen Klauen hält, obwohl du dir geschworen hast immer objektiv zu bleiben. Ein Spiel, dass sein Genre für die kommenden Jahre und Jahrzehnte prägen und beeinflussen wird. Wie Zauberei verpuffen jegliche kleinen Kritikpunkte und zurück bleibt eine Erfahrung, die man so schnell nicht vergessen wird. Red Dead Redemption 2 ist so ein Spiel.