Was ist Kunst? Was ist Unterhaltung? Was ist beides? Diese Fragen beschäftigen schon seit jeher die Diskussionen in verschiedensten Medien, über Film, Bild und Musik. In der Gegenwart sind sie sogar in die bisweilen als harmlos gesehenen Videospiele herübergeschwappt. Plötzlich tauchen Spiele auf, die nicht mehr nur auf einfachen Spielspass abzielen, sondern auch tiefere Aussagen tragen. Sogar Spiele, die Spielspass gnadenlos opfern, um diese Aussage weiter zu unterstreichen.
Death Stranding entstammt aus der Feder eines Mannes, der dafür bekannt ist, nicht wirklich Spiele im klassischen Sinn, sondern Kunstwerke zu erschaffen. Hideo Kojima ist ein Visionär, der schon immer versucht hat die Grenzen des konventionellen Spiels zu durchbrechen und der Welt aufzuzeigen, dass das Medium viel weiter reichen kann. Mit Death Stranding tut er dies mehr als je zuvor: Während die Metal-Gear-Solid-Reihe zumindest zu gewissen Graden Konventionen verfolgte, lässt Death Stranding beinahe alle fallen. Das Spiel tut genau das, was einigen Spielern unverständlich ist: Es opfert einen Teil des Spassfaktors, führt absichtlich frustrierende Spielmechaniken ein, nur um eine tiefere Botschaft, ein grösseres Gesamtprodukt besser zu unterstreichen. Man merkt, dass Kojima hier absolut freie Hand hatte und dass ihm kein Marktanalytiker oder Funktionär reingefunkt hat: Death Stranding hat eine konsistente Vision und zieht diese mit eiserner Faust durch.
Wie die Welt einmal war und wie sie wieder sein sollte
Hideo Kojima nimmt sich für Death Stranding ein Grundthema und lässt dieses in alle Aspekte seines Werks fliessen. In Death Stranding geht es um Verbindung, um Zusammenarbeit, um Harmonie in Chaos. Protagonist Sam Porter Bridges ist ein Paketlieferant in einer surrealen post-apokalyptischen Welt, der mithilfe von Paketlieferungen, die zersplitterte Gesellschaft der Menschen wieder zusammen, und damit zu alter Stärke führen soll. Eigentlich ist Death Stranding als Ganzes eine Allegorie für das Internet. Geographisch weit distanzierte Gemeinschaften werden mithilfe von Lieferungen von allerlei Materialien verbunden, beginnen zu jedermanns Profit zusammen zu arbeiten. Jedoch gibt es natürlich auch böswilliger gesinnte, terroristisch gefärbte Fraktionen, die diese Verbindungen versuchen aufzulösen oder für ihre eigenen Pläne zu verwenden. Das ist im Grunde die Hauptgeschichte und sie hört sich doch simpler an als man nach den extrem mysteriösen Trailern und Teasern erwartet hatte.
Die Komplexität von Death Stranding liegt unter der Wasseroberfläche. Erst wenn man freiwillig tiefer eintaucht sieht man, dass jedes einzelne Detail von Kojimas Welt bis in seine kleinsten Ecken durchdacht ist und immer Bedeutung trägt. Gesellschaftskritik, unglaublich faszinierende Gedanken über das Leben und den Tod, unerträglich dichte, surreale Atmosphäre: Das Amerika von Death Stranding trieft nur von Details und Tiefe, genauso wie die Geschichte selbst.
Diese reine Fülle an Gedankengut, dass hier steckt, führt doch gelegentlich dazu, dass man von der schieren Anzahl an Konzepten erschlagen werden kann, selbst ohne dass Death Stranding wirklich alles preisgibt, was es zu bieten hat. Doch das resultiert parallel auch darin, dass über diese Welt über viele Jahre hinweg noch nachgedacht, die Geschichte sehr lange auseinandergepflückt und neu interpretiert werden kann. Selbst relativ einfach erscheinende Dinge erhalten plötzlich Bedeutung, wenn man über sie nachdenkt, sie im eigenen Kopf in einen neuen Kontext setzt.
Man nehme beispielsweise die Tatsache, dass Death Stranding viele seiner Haupt- und Nebencharaktere mit realen Berühmtheiten aus allen möglichen Medien wie Film, Spiel und Buch besetzt. Ein bekannter und anerkannter Regisseur gibt plötzlich Sam Nebenquests, eine berühmte Schauspielerin erzählt ihm etwas über die Welt, oder ein bekannter Spielejournalist erklärt ihm wie die Systeme vom Spiel ineinandergreifen. Was auf ersten Blick wie ein einfacher PR-Stunt zu scheinen mag, der schlicht Aufmerksamkeit auf das Spiel lenken soll, passt aber auch genauso perfekt in das Grundthema der Welt und der Geschichte hinein. Es geht hier darum Menschen zu verbinden. Was verbindet uns Menschen in der realen Welt? Unterhaltung, Filme, Spiele und andere Medien. Die Definition von Pop-Kultur ist, dass sie aus dem gemeinsamen Interesse vieler Menschen entsteht. Und genau das sind auch diese Berühmtheiten: Symbole und Vertreter genau jener Pop-Kultur, die uns alle so stark miteinander verbindet.
Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie in jedem noch so kleinen Detail von Kojimas Werk Bedeutung und Tiefe gefunden werden kann. Death Stranding ist besonders für Menschen, die gerne tiefer in fiktionale Welten blicken und sie gedanklich erforschen, statt sie nur zu konsumieren, ein wahres Fest.
Rein erzählerisch präsentiert sich die Geschichte sehr mystisch und nebulös. Immer scheint ein gewisser Vorhang über die Figuren und die Ereignisse gehüllt zu sein, immer noch eine weiteres Geheimnis hinter dem nächsten zu stecken. Dies wird nur noch unterstrichen von der sehr langsamen Erzählweise, die zu gewissen Perioden in der Spielzeit fast komplett stillzustehen scheint. Dazu kommt noch, dass Kojima hier mit sehr vielen und vor allem sehr langen und ruhigen Zwischensequenzen arbeitet, die die Schwere der Geschichte aber auch des Erzählflusses weiter betont. Sequenzen sind lang und oft auch still, es wird in Rätseln und Bildern gesprochen statt expositionär. Der Spieler wird ständig hungrig nach Antworten zurückgelassen. Hier hat Kojima definitiv viel Inspiration in Filmklassikern wie 2001: A Space Odyssey gefunden. Die virtuelle Kamera ist schwer, die Charaktere langsam, die Dialoge äusserst pathetisch. Dennoch: Kojima vermag es in genau den richtigen Stellen die Ernsthaftigkeit soweit runterzufahren, dass doch ein minimales Mass an Greifbarkeit und Nähe zu den Figuren und der Welt entsteht, genau genug, damit der Spieler weiterhin dranbleibt und sich nicht abgestossen fühlt. Das Dranbleiben lohnt sich auch, denn die Geschichte von Death Stranding ist wirklich genial, man muss nur dafür arbeiten.
An asylum for the feeling
Death Stranding ist ein Zelebrieren der Einsamkeit. Man kämpft, schleicht, spaziert durch die Einöde, die nach dem apokalyptischen Event des «Death Stranding» aus Amerika geworden ist. Das Gameplay besteht simplerweise daraus Pakete zu überbringen. Doch dieser Satz vereinfacht mehrere höchst komplexe Systeme, die genial elegant ineinandergreifen und eine völlig einzigartige Spielerfahrung generieren. Kojima nimmt sich die wohl langweiligste und einfältigste Spielmechanik aller Zeiten, nämlich «Gehen», und macht daraus eine unglaublich eindrucksvolle visuelle, spielerische und fast schon meditative Erfahrung. Man navigiert als Spieler zwischen Gesteinsbrocken, klettert eiskalte Berge hoch, überquert tiefe Schluchten und macht sich eine atemberaubende Landschaft zu eigen. Zwischen den Gemeinschaften der Menschen liegt kalte, gefährliche Leere, doch nie zuvor war sie schöner oder spannender als hier. Dazu kommen die Ressourcen und Pakete, die der Spieler selbst verwalten muss, genauso wie die Gegner in der Welt, die durch ihr unterschiedliches Verhalten ein wunderbar dynamisches Abenteuergefühl kreieren. Jedes Mal, wenn man als Sam seinen mühsam schweren Rucksack zurechtgezurrt, die Waffen und Schuhe eingepackt hat und in die weite Leere der zerstörten USA hinauszieht, fühlt man sich als würde man Grosses unternehmen und bewirken. Als würde man unerklärlichen Gefahren trotzen und die atemberaubende Natur überwinden um die Menschheit wieder zusammenzuführen. Death Stranding fühlt sich sowohl in seiner Story als auch in seinem Gameplay so gross, so mächtig an, und es fällt einem doch gelegentlich schwer zu erklären, warum das so ist. Vielleicht ist es das komplexe aber gleichzeitig ebenso simple Gameplay, vielleicht ist es die surreale und mythische Story, die aber eine perfekte Allegorie zur Gegenwart ist, vielleicht ist es die unglaublich passende Musik, die knackscharfen Soundeffekte, das subtile und geniale Leveldesign. Vielleicht aber ist auch die Kombination von all dem.
Directed by Hideo Kojima
Kojima ist einer der wenigen wirklichen Game-«Directors» der Industrie im eigentlichen Sinne des Wortes. Während viele andere Spiele aus einem kollektiven Gedankengut stammen und deshalb selten wirklich thematisch nur streng einen Weg gehen, wirkt hier alles aus einem einzigen Guss, zum Guten wie zum Schlechten. Death Stranding verfolgt streng ein Thema, ein Motiv. Alles was dem im Weg steht wird aus dem Weg geschafft. Das hier ist eine Geschichte vom Wiederaufbau der Menschheit. Vom Wiederaufbau des Vertrauens, des Zusammenhalts. Eine Geschichte von Dystopie, die mithilfe mühsamer Arbeit und viel Opfern in eine Utopie umgebaut wird. Und genauso mühsam und hart soll sich Death Stranding auch anfühlen um diese Erfahrung zu perfektionieren. Dementsprechend besitzt Death Stranding Spielmechaniken, die sich nervig anfühlen können. Die Steuerung ist teilweise schwammig, die Aufgaben im Grunde repetitiv. Die Figuren sowie die Welt sind undurchlässig, nicht vollumfassend greifbar in ihrer Mystik. Das Spiel will den Spieler ins kalte Wasser werfen, ihn leiden und arbeiten sehen, genauso wie es sich auch für Sam anfühlen muss. Eine Verbindung von Narrative und Gameplay, wie sie nur Wenige wagen durchzuführen. Aber damit auch umso befriedigender und authentischer. Death Stranding ist mehr Kunstwerk als klassisches Spiel, mehr eindrucksvolle Erfahrung als lockerer Spielspass.