Ein Mensch kommt nach einem langen Arbeits- oder Schultag nach Hause. Er wirft seine verschwitzten Kleider und Taschen ab, in der Dusche tropft langsam die Müdigkeit des Tages von seinen Schultern. Mit müden Augen schlurft er ins Wohnzimmer und lässt sich wie einen Sack Mehl auf seine durchgesessene Couch fallen. Quietschen und Knarzen erfüllen für einen Moment die Luft. Er starrt ermüdet ins Leere. Ein weiterer Tag ist endlich vorübergegangen. Plötzlich fällt ihm die Packung Chips ins Auge, die halb unter dem tiefliegenden Wohnzimmertisch hervorlugt. Er greift vorsichtig danach, zögerlich, denn er weiss, dass er eigentlich sich ein gesünderes, richtiges Abendessen machen sollte. Doch sobald die erste, salzig-raue Oberfläche seine Zunge berührt, fängt er an sich mit seinen immer fettigeren Fingern immer mehr in den Mund zu schieben. Regelrecht im Rausch flüstert ihm eine leise Stimme in seinem Kopf, dass er sich etwas Richtiges zu essen machen sollte. Er weiss genau, in ein paar Stunden wird er es bereuen. Doch mittlerweile ist es ihm egal. Das Junk-Food rammt er nur so in sich hinein, der Stress des Tages verschwindet mit den Chips zusammen in den Untiefen seines Rachens.
Auf die Minuten des Rausches folgen Stunden der Reue. Aber auch des Wohlfühlens. Mit erfolgreich errungenen Bauchschmerzen, döst der Mensch langsam ein, friedlich und zufrieden.
Man ersetze die Chips mit Borderlands, man drücke dem Menschen einen Controller in die Hand und schon hat man die Spielerfahrung des Borderlands-Franchises nachgestellt. Borderlands 3 führt diese Tradition genauso weiter: Eine Art von Spiel, die eigentlich nicht funktionieren sollte, doch es trotzdem tut. Eine Art von Spiel, bei der man weiss, dass sie einem nicht bekommt, dass man doch etwas Hochwertigeres spielen sollte, doch bei der man sich dennoch nicht beschwert. Borderlands 3 ist, genauso wie seine Vorgänger, Videospiel-Junk-Food, billig, ungesund, süchtig machend. Doch darin ist es sehr gut.
Alte Schule, altes Haus
Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wie gut Borderlands 3 immer noch funktioniert, obwohl es wohl rein konzeptuell und spielmechanisch eines der faulsten und uninspiriertesten Spiele aller Zeiten ist. Doch das wiederum zeigt auch, wie effektiv es sein kann sich schlicht ein simples Gameplaysystem zu nehmen und zu solch einer Perfektion aufzupolieren, dass es alleine reicht um ein gesamtes Spiel zu tragen. Das Looten in Borderlands ist so unglaublich befriedigend, dass selbst ein «nur» gutes Schussgefühl, ein mässiges Leveldesign, eine lockere aber nicht wirklich tiefgreifende Geschichte und keine weiteren Mechaniken dafür reichen, den Spieler komplett in seinen Bann zu ziehen. Sogar über mehrere Spiele hinweg, denn das Gefühl etliche Kisten, Kartonboxen, Toiletten etc. zu öffnen und schlicht mit Munition und neuen Waffen übergossen zu werden hat sich nicht wirklich weiterentwickelt doch funktioniert immer noch hervorragend.
Dazu tragen natürlich die etlichen verschiedenen Waffen und Charakterbaumöglichkeiten bei, die Borderlands 3 einbaut. Gearbox schafft es erneut den Strom an verschiedensten Waffen, neuen Fähigkeiten und anderen Collectibles in der Welt so perfekt zu dosieren, dass sobald eine Abflachung der Spielerfahrung entsteht, dieser wieder entgegengewirkt wird. Ständig werden dem Spieler neue Spielarten vor die Nase gehalten und er bleibt weiter an der Stange. Das Endorphin-Level bleibt stets hoch, die Sucht wird grösser und grösser.
Daneben vermag Borderlands 3 wieder mit einem äusserst befriedigenden Schussgefühl zu entzücken. Dabei spielt erneut nicht die Reaktion der Gegner auf die Schüsse, sondern die Lebensanzeigen und das Mass an Schaden, die man als Spieler verübt eine grosse Rolle. Nur selten verkommen Gegner zu zähen Kugelschwämmen, die hunderte von Schuss aufsaugen und die Anzeige sich nur so kriechend zu leeren scheint. Selbst Bossgegner, obwohl natürlich etwas langlebiger, fühlen sich sehr balanciert an. Die Gegner sterben schnell genug, dass man in Bewegung bleiben kann, die Fähigkeiten haben genug kurzen Cooldown, dass man sie immer wieder benutzen kann. Die simple Gameplayschleife von Borderlands 3 von Schiessen, Fähigkeiten einsetzen und Loot einsammeln ist schlicht hervorragend gut konstruiert. Jede Animation sitzt perfekt, jeder Soundeffekt ebenfalls und ergibt am Ende ein unglaublich simples, aber ebenso effektives Spielgefühl.
Unsichtbare Zwillinge
Was die Geschichte angeht, greift Borderlands 3 vor allem vorher schon existente Figuren auf und führt ihre Handlungsstränge ein wenig weiter. Dabei erzählt sich Borderlands 3 recht einsteigerfreundlich und lässt auch Spieler geniessen, die Rhys, Vaughn, Lilith usw. noch nicht kennen. Für rückkehrende Spieler jedoch lassen sich doch auch die ein oder anderen sehr schönen Momente finden, die sehr subtil erzählt sind. Es werden schlicht gewisse vage Punkte erwähnt und der Kenner der vorherigen Reihe kann sich dann in seinem Kopf selber zusammenspinnen, was genau passiert sein könnte. Man merkt Borderlands 3 die Liebe an seinen Figuren sehr stark an, sie alle sind sehr lebendig und einzigartig, brennen sich ins Gedächtnis, nicht zuletzt auch wegen des brillanten Voice-Actings.
Die Hauptgeschichte hält sich durch die grösste Zeit des Spieles hindurch relativ im Hintergrund. Direkt am Anfang wird mit Schlüsseln und antiken Fragmenten ein simpler McGuffin eingeführt, um den Spieler narrativ schnell aufzufangen. Diese Gegenstände, die man nun finden soll, ist auch für den grössten Teil der Geschichte der geschichtliche Hauptantrieb, was doch mit der Zeit etwas mager wirkt. Auch die Hauptantagonisten von Borderlands 3 lässt man in der Wüste verdursten. Die beiden Zwillinge Tyreen und Troy wirken eigentlich anfangs recht interessant und besitzen mit ihrem Social-Media Quirk eine zwar veraltete, aber dennoch witzige Art. Doch leider verschwinden sie auch sogleich beide für den Grossteil des Spieles komplett von der Bildfläche. Sie werden nicht gross charakterisiert oder vertieft, scheinen jeglichen einfältigen Bösewichts-Klischees verfallen. Ab und an besitzen sie aufregende Auftritte, doch diese sind so selten, dass man als Spieler fast dazu geneigt ist, die beiden beim Spielen komplett zu vergessen. Allein gegen Ende, wenn Ihre Hintergrundgeschichte enthüllt und geschickt in vorherige Ereignisse eingefädelt wird, werden Sie wirklich faszinierend, auf eine simple aber effektive Weise. Aber da wirkt das Ganze schon ein wenig zu spät. Selbst die Witze, die man mit dem Quirk der beiden fast schon am Laufband macht, gehen mit der Zeit ins Peinliche ein..
Hier soll eine kleine Parenthese eröffnet werden. Borderlands 3 ist, wie die vorherigen Teile, unüberraschend vulgär, pervers, ja man möge fast schon sagen kindisch in seinem Humor. Teilweise fühlt sich das Spiel sogar an wie ein Best-of deiner Lieblingsmemes aus dem Jahre 2014. Dieser Punkt ist jedoch nicht unbedingt als Kritikpunkt zu sehen. Wer diese Art von geradlinigen, unverblümten Humor mag, der wird sich ab der Trockenheit und Albernheit mit der Borderlands 3 seine Witze herüberbringt dick ins Fäustchen lachen. Wer aber gut strukturierte, clever aufgebaute Witze mit Pointen sucht, und vor allem den berüchtigten, höchst ziel- und planlosen Millennial-Humor nicht erträgt/versteht, für den wird das Spiel hier wahrscheinlich eine Reise der Kopfschmerzen und der Peinlichkeit.
Fettige Angelegenheiten
An Borderlands 3 lassen sich enorm viele Kritikpunkte finden. Die Geschichten scheint ein wenig ungestützt und sehr ungewichtig, das Gameplay ist eigentlich sehr repetitiv und das Leveldesign der vielen Karten eher unspektakulär, ja teilweise sogar in seiner Struktur veraltet. Selbst die Technik wirkt, obwohl man im Art-Design ein paar Schauwerte noch rauszuholen vermag, nicht mehr zeitgemäss. Die Charaktermodelle ausserhalb der geschichtlich relevanten Figuren, die Animationen ausserhalb vom Kampf, die Texturen; alles wirkt schlicht nicht gut. Doch wenn der positive Feedback-Loop greift, dann scheinen diese Kritiken einfach zu verblassen. Borderlands 3 greift den Spieler mit zwar sehr simplen und fast schon archaischen aber höchst ausgefeiltem Loot-/ und Erkundungsspiel so stark, dass man nicht mehr aufhören möchte. Der Spieler merkt, dass er gerade etwas spielt, was von seinem Anspruch, von seiner Kreativität und seiner Tiefe schlicht banal und faul ist, aber er will es trotzdem nicht lassen.
Der Begriff «Spass» ist immer ein schwieriges Thema. Definiert der Spassfaktor, wie gut denn ein Spiel wirklich ist? Können Spiele, die absichtlich frustrieren, absichtlich dem Spieler nicht die weichsten und angenehmsten Steuerungen geben, und ihn absichtlich von der Geschichte unerfüllt zurücklassen nicht gut sein? Diese Frage kann man natürlich auch umdrehen: Können Spiele, die sehr viel Spass machen, auch schlecht sein?
Spass vs. Qualität: Getrennt aber doch Hand in Hand
Wenn man Borderlands 3 betrachtet stellt sich diese Frage fast schon permanent in den Mittelpunkt. Man spielt ein Spiel, was eigentlich nicht wirklich gut ist, keinen wirklichen Mehrwert bietet, keine Substanz besitzt, keine wirklich interessanten Spielmechaniken, keine wirklich anziehende Geschichte. Aber Spass- und Suchtfaktor, davon gibt es hier zuhauf. Ist Borderlands 3 nun qualitativ gut oder schlecht?
Hier greift die Objektivität letztendlich und gibt das finale Urteil: Borderlands 3 ist objektiv nicht wirklich gut, eher starkes Mittelmass, doch liefert dennoch enorm viel Freude. Deswegen auch die Analogie mit dem Junk-Food zu Beginn: Borderlands 3 ist nicht gesund oder spannend zu geniessen, aber es schmeckt doch sehr gut.