Ein Mann saß leicht angespannt an einem weißen Holztisch, seine Arme ruhig auf der Lehne seines Stuhles liegend, der sich mit hohen Quietschtönen über sein Alter beschwerte. Kahles Blaulicht spiegelte sich in seinen Augen als er nachdenklich aus dem Fenster blickte. Ein kühler Windstoß strich zwischen den Vorhangsmaschen in das Zimmer hinein und ließ ein Haar auf seine Stirn fallen. Er strich es weg und nervte sich. Alles schien ihn abzulenken.
Mehrere Tage war es nun her seit die Credits von Yoko Taros NieR Replicant Remake über seinen Fernseher gewandert waren. Seit Tagen hatte er sich überlegt, wie er dieses Spiel in Worte verpacken sollte. Und ständig schien ihm etwas dazwischen zu kommen, auch wenn es nur so etwas wie ein Windstoß war. Oder war er selbst derjenige, der sich dazwischenkam?
Entschlossen drückte er sich mit beiden Händen hoch und lief schnellen Schrittes in die Küche. Das Klackern und Rattern der Kaffeebohnen, die zwischen den Klingen der Maschine zerschredderten, waren in weiter Ferne. In den Hallen seiner Gedanken erklangen nur die mächtigen Trommeln, Geigen und Gesänge von Keiichi Okabes Meisterstücken.
Der nussige, warme Duft, dessen Quelle in der heißen Tasse in seiner Hand war, stieg ihm in die Nase. Er ließ sich auf den greisigen Stuhl fallen, der sich noch einmal lauthals und mit frechen Worten darüber beklagte. Seine Finger begaben sich erneut in die Schwebe.
Er musste dieser äußerst merkwürdigen Einleitung einer Review zu einem Videospiel nun ein Ende setzen. Doch egal wie unkonventionell und vielleicht sogar abschreckend diese Einleitung sein mag, er löschte sie nicht. Weil sie trotzdem ein wichtiger Teil davon war.
Denn das hatte er von Yoko Taro gelernt.
Denn ein außergewöhnliches Spiel wie NieR Replicant hatte so eine Einleitung auch verdient.
Götter, gefesselt von Regeln
Um wieder in einen angemessenen Jargon zu wechseln: Diese Einleitung könnte vielleicht sogar als Review allein stehen, denn NieR Replicant (vom Ausschreiben der überlangen Versionsnummer wird in dieser Review mal abgesehen) ist ein solches Spiel, welches nur schwer anhand seiner qualitativ schlechten Aspekte gemessen werden kann. Bei einer wirklich rein objektiven Betrachtung der Qualität ergibt sich ein Resultat, was sich aber überhaupt nicht mit dem Gefühl deckt, dass das Spiel beim Spieler hinterlässt. Deswegen macht es vielleicht am meisten Sinn diese negativen Aspekte aus dem Weg zu schaffen, da sie sich bei einer etwas der Sachlichkeit ausgedünnten Beurteilung dieses einzigartigen Meisterwerks fast komplett entzieht.
Kurzum: NieR Replicant ist geplagt von beinahe allem, wovon in einem Umfeld des Spieledesigns abgeraten wird. Aber es annulliert diese Probleme ebenfalls auf wundersame Weise. Das Kampf-Gameplay, obwohl stark aufpoliert vom Original aus dem Jahre 2010 und sehr dem eleganten Spielgefühl von dem Sequel NieR: Automata ähnlich, vermag nicht die gesamte Spielzeit zu tragen und verliert sich in einer ständigen Repetition der gleichen Tastenabfolge. Das Questdesign lehnt jegliche Innovation und kreative Würze ab und verfolgt, unter parodistischem Vorwand, eine Fetch-Quest-Struktur, die sich aber trotzdem genauso banal und steif zeichnet wie die etlichen JRPG-Quests, über die sich NieR Replicant lustig macht. Da bringt auch ein Brechen der 4. Wand mithilfe Metajokes von dem Buch Grimoire Weiss wenig Entschuldigung. Die Spielwelt wird, obwohl sie optisch im Remake doch schön geworden ist, völlig zur Dürre gemolken durch etliches Backtracking und auch eine gewisse Steifheit und strukturelle Unzugänglichkeit.
Aber ebenso überraschend ist es, dass in dem Moment, wo man das Spiel ausmacht sich die Magie des Spieles entfaltet. Man will zurück, zurück in diese einzigartig faszinierende Welt und Spiel, zurück zu den Figuren Kainé, Emil, Grimoire Weiss und Nier.
«There are as many ways to view the world as there are people in it.»
Es gibt wohl kein anderes Spiel, welches durch seine unglaublich großartigen narrativen und atmosphärischen Aspekte sämtliche Kritiken und technische Probleme so sehr verstummen lässt. Die Spielwelt von NieR Replicant und die übergreifende Geschichte, die wunderbar komplex mit der Drakengard-Serie zusammenhängt und ebenfalls neu engere Verbindungen zu NieR: Automata strickt, sind schlichtweg magisch. Yoko Taro ist ein Künstler und es ist eine unglaublich hohe Kunst wie er hier total seltsame Konzepte und Motive mit teils atemberaubend nuancierten und tiefgreifenden Figuren und philosophischen Fragen in ein großes kohärentes Ganzes bündelt. Tatsächlich machen die einzelnen Story-Stränge, auch nach Taros eigener Aussage, teilweise überhaupt keinen Sinn, doch fügen sich zum Schluss doch in eine Story-Matrix, die einzigartiger und emotionaler kaum sein könnte. Dier Herangehensweise von Yoko Taro ist dabei auch eine besondere: Er schreibt in seiner Arbeit immer zuerst das Ende seiner Geschichten und bestimmt welche Emotionen er beim Spieler erzeugen möchte und rollt das ganze dann nach diesem Gerüst und Ziel von hinten auf.
Yoko Taro ist ein Autordirektor genauso wie Kojima oder Miyazaki zu einem gewissen Maße. Er möchte die Grenzen des Spielens hinterfragen und sie durchbrechen, um die Emotionalität und die Metabedeutung weiter zu unterstreichen. Und dies tut er in NieR Replicant auf eine Weise, wie sie sonst nicht im Medium existiert. Er macht intertextuelle Referenzen auf die gesamte Populärkultur durch schlichte Kameraperspektiven, wechselt teilweise waghalsig in völlig neue Genren (wie die Einleitung hier auch zitieren sollte) und bricht risikofreudig mit der eigenen Stimmung, nur um die Kontraste besser zu unterstreichen. Die Metaebenen sind vielschichtig, sodass NieR Replicant auch teilweise, in einer Betrachtung der Umstände der Serie und dessen quasi Wiedergeburt durch den Erfolg von NieR: Automata, eine völlig andere Bedeutung erhält als noch das Original.
Von Spiele-Soundtracks und Verwobenheit
Genauso unkonventionell und merkwürdig, aber vielleicht genau deswegen so magisch, verhält sich die Präsentation von NieR Replicant. Das Prinzip, das Yoko Taro den Spieler gerne Spielepassagen mehrmals durchspielen lässt, mögen manche bereits aus NieR: Automata kennen, diese findet hier jedoch ein besonders hohes Maß. Die Wiederholung von Spielesequenzen wird dazu benutzt diese durch hervorragende Plottwists völlig neu zu kontextualisieren und stärker emotional aufzuladen. Das funktioniert auch auf voller Ebene, auch wenn manchmal damit etwas über das Ziel hinausgeschossen wird.
Im Kern der Magie von diesem fantastischen Spiel steht aber, auf gleicher Ebene wie Yoko Taros narrative und spielmechanische Genialität, Keiichi Okabes Musik. Okabes Arbeit mit den leitmotivisch verwendeten Harmonien und den abstrakten Gesängen, sowohl hier als auch im Sequel, bildet den wohl besten Spielesoundtrack aller Zeiten. Er nimmt sich Harmonien und macht diese nicht nur an bestimmten Figuren fest, sondern orientiert sich wie Yoko Taro selbst an Motiven und den Gefühlen, die diese auslösen. So vermag das Thema vom Charakter Kainé nicht nur in Momenten spielen, die ihr gehören, sondern auch in Momenten von anderen Figuren, die auch Hass, Verzweiflung und das Sehnen nach Akzeptanz wie sie verkörpern. Somit erzeugt Okabe zusätzlich zu Taros Storytelling weitere thematische Verknüpfungen innerhalb der Geschichte zusätzlich zu der Verstärkung der Gefühle des Spielers, die seine Musik auslöst. Die Harmonien variiert Okabe dazu noch so geschickt in ihrer Intensität, indem er mit verschiedenen musikalischen Iterationen davon herumspielt, dass sich die Musik so nahtlos in die Gesamterfahrung NieR Replicant einfügt, wie sie auch als alleinige emotionale Reise gleichauf daneben stehen kann.
Der Endboss ist die Zahlenwertung
Zum Schluss stellt sich die Frage welche Zahlenwertung dem ganzen hier gegeben werden kann und ob diese anhand der teilweise nur schwer greifbaren Qualitäten des Spieles überhaupt irgendwelche Relevanz haben. Wie bereits erwähnt, objektiv gesehen ist NieR Replicant höchstens auf mittelmäßiger Stufe zu werten, dass durch seine geniale Narrative auf ein überdurschnittlich gutes Level angehoben wird. Dementsprechend wird sich die Zahlenwertung auch in dem Bereich halten.
Diese oben beschriebene Magie, die in dieser Art und Weise wohl nur Yoko Taro in einem Umfeld mittelmäßiger Spielemechaniken und technischer Limitierungen erzeugen kann, entzieht sich jeglicher objektiver Beobachtung, doch sorgt auch dafür, dass NieR Replicant ein Meisterwerk des spielerischen Geschichtenerzählens ist. Diese Magie mag sich vielen Leuten aufgrund ihrer Abstraktheit und Merkwürdigkeit entziehen, sie vielleicht sogar entfremden. Und vielleicht ist NieR Replicant und vor allem Yoko Taro auch genau deswegen so ein Stück Videospielkultur, dass es mit aller Kraft zu bewahren und zu wertschätzen gilt.