Superhelden sind die aktuell größte Naturkatastrophe der Popkultur. Wie eine unendlich große Welle überschwemmen sie seit dem Erfolg des ersten Iron-Man den Medienmarkt zusammen mit all seinen Ecken und Nischen. Doch obwohl die Wellen überall größtenteils nach dem gleichen heroischen Einheitsbrei aussehen, werfen sich die meisten Menschen ohne Hemmungen in die Flut hinein. Sie ertrinken mit einer Freude und Enthusiasmus in einer Flut von Schablonenhelden und Abziehbösewichten, saugen jedes Detail auf und werden selbst beim hundertsten überdramatisierten Sterben einer geliebten Figur hysterisch, obwohl sie genau wissen, dass dieser Tod vermutlich im nächsten Film mit dem berüchtigten Deus Ex Machina-Zauberstab rückgängig gemacht wird.
Die Geschichte der Superhelden-Videospiele zeichnet jedoch ein dezent anderes Bild. Dieses ist eher durchwachsen und gleicht eher dem beruhigten Plätschern eines Bergflusses, aus dem Hin und wieder ein Diamant rausfließt. Spiele wie die Arkham-Reihe sind helle Lichtblicke selbst im allgemeinen Blick der gesamten Spielebranche, aber ansonsten sind die Spiele nur schwache Schatten ihrer Inspirationen.
Insomniac Games veröffentlicht nun mit Marvel’s Spider-Man seinen Versuch, die Freude an Superhelden auf das Medium der Videospiele zu übertragen. Kann das neuste Abenteuer des herumschwingenden Witzereißers überzeugen?
Euphorisches Herumschwingen im sterilen New York
Insomniac Games hat selbst bestätigt, dass das erste spielerische Element, welches sie in der Entwicklung angegangen sind, das Netzschwingen durch die Stadt war. Und wer Spider-Man spielt wird dies sofort bestätigen. Die auf Physik basierte Herumschwingerei in New York ist von seiner Inszenierung, sowie vom einfachen Gefühl absolut perfekt umgesetzt. Das Tempogefühl stimmt, die Animationen sind einfach nur herausragend. Es ist befriedigend und beruhigend auf höchstem Niveau, aber gleichzeitig auch aufregend. Man sollte eigentlich in Reviews nicht mit Superlativen um sich werfen, aber hier soll das einfach mal getan werden: Das Netzschwingen in Marvel’s Spider-Man ist eines der besten Fortbewegungsmittel aller Zeiten in einem Open-World Spiel.
Die Open-World von Spider-Man ist auch komplett um diese ganze Schwingmechanik herum konstruiert. Der Aufbau von den abwechslungsreichen New Yorker Stadtvierteln, mit den hohen Wolkenkratzern, tiefen Straßenschluchten, den Stadtparks, den riesigen Wohnblocks und gelegentlichen Baustellen ist einfach nur optimal für das Herumschwingen. Die Stadtviertel unterscheiden sich voneinander und sorgen sogar dafür, dass man gelegentlich seinen Schwingstil anpassen muss. Dazu sind auch noch überall Easter-Eggs und Referenzen zum gesamten Comic-Universe verteilt, so dass man immer wieder kleine und große Details entdeckt, die einem ein Lächeln auf das Gesicht zaubern. Rein strukturell ist New York hier großartig.
Leider beschränkt sich diese Qualität nur auf den Aufbau. Für viele Spielstunden blendet die Herumschwingerei und die visuelle Präsentation von New York, sowie dessen Aufbau die organische Qualität von New York. Dem Spieler fällt doch nach einigen Spielstunden auf, dass New York eine sehr sterile, wenn nicht sogar mechanische Welt ist. Die Straßen sind voll mit leblosen Menschen und Autos, die alle schlicht Laufrichtungen ablaufen. Die Karte ist fast schon lieblos zugekleistert mit so vielen verschiedenen Collectibles, dass man sich an die schlechten Jahre von Assassin’s Creed erinnert fühlt. Diese nutzen alle das tolle Schwingsystem aus, doch die sammelbaren Gegenstände, die den größten Teil der Nebenbeschäftigungen ausmachen, sind hier schlicht zu viel und zu unkreativ eingebaut. Dies schadet auch der Gesamtwirkung der Spielwelt. Eine Illusion von Lebendigkeit oder Dynamik vermag hier nicht wirklich zu entstehen.
Weitere große Teile des Gameplays sind vor allem die Kampfmechaniken und die gelegentlichen Quick-Time-Events. Die Kampfmechanik ist hier überraschenderweise spaßig und abwechslungsreich, obwohl sie sehr stark vom äußerst substanzlosen Kampfsystem aus der Arkham-Reihe inspiriert scheint. Man schlägt, springt, zieht sich zum Gegner, netzt sie gegen Wände und Böden, wirft sie vom Gebäude und das alles in sehr schneller und intuitiver Art. Die Quick-Time-Events wurden so rar gesät und dabei so toll inszeniert, dass sie niemals störend sind, sondern eher aufregend.
An diesem Punkt gilt es ein besonderes Kompliment an die Bosskämpfe zu richten. Davon gibt es einige in Spider-Man und sie sind quasi genau das Gegenteil von dem anderen großen Sony Exklusivtitel dieses Jahr, God of War. Die Kämpfe sind relativ kurz und immer einzigartig, niemals wirken die Gegner wie Gummipuppen, auf die man stundenlang einschlagen muss oder wie Kopien voneinander. Alles ist kurz und knackig und wunderbar inszeniert.
Wo man wenig erwartet und alles bekommt
Der Bereich, worin Marvel’s Spider-Man am meisten überrascht, ist in der Geschichte. Insomniac präsentiert uns hier eine wunderbar geschriebene Story mit allerlei Mysterien, Wendungen und Dramatik, bestückt mit toll geschriebenen, sympathischen Figuren. Die Geschichte wird durch und durch von den Charakteren getragen, aber diese sind so tiefgehend, echt und warm, dass man immer mehr über ihr Leben sehen und hören möchte. Selbst die Bösewichte besitzen alle Motivationen und sind allesamt tragische Figuren, die Helden einer anderen Perspektive, wie es so schön heißt.
Die Story braucht ein wenig Zeit um aus ihren Startlöchern zu kommen und leidet auch zu Beginn und Ende des dritten Aktes an Pacing-Problemen. Manchmal passiert für eine Weile wenig, manchmal passiert zu viel auf einmal. Manche Figuren werden aufgebaut und dann am Ende übergangen. Dennoch funktioniert die Story in sich sehr gut und diese hervorragend geschriebenen und gespielten Figuren überdecken das gelegentlich problematische Erzähltempo. Ich breche hier erneut mit der Superlativregel: Die Geschichte von Marvel’s Spider-Man ist besser als alle Geschichten aus jeglichen MCU, DCEU und X-Men Filmen. (Man beachte, dass hier Christopher Nolans Batman-Reihe nicht einbezogen ist.)
Was in den Dialogsequenzen zu kritisieren wäre, passiert außerhalb der Zwischensequenz und in der offenen Welt. Hier hat Insomniac, wie für ein Spider-Man Titel üblich, allerlei witzige Kommentare und Monologe eingebaut. Diese funktionieren jedoch meistens nicht, wirken erzwungen und eher hineingestopft und verlieren nach ihrer dritten Wiederholung auch den kleinsten Lachfaktor.
Das ändert aber nichts an der Hauptgeschichte. Man lacht, fiebert und weint sogar mit diesen großartigen Figuren mit. Der dramatische Aufbau funktioniert, die emotionale Ladung ebenso.
Technisch makellos
Auf technischer Ebene hält Marvel’s Spider-Man jeglichem Zweifel stand. Durch einen gewissen Art-Style balanciert das Spiel perfekt auf einer Grenze zwischen Fotorealismus und abstrakten Stil. Die Charaktere wirken glaubwürdig und man kauft ihnen jede Emotion ab. Äußerlich ist New York schlicht atemberaubend schön, vor allem auch mit den verschiedenen Lichteffekten von Tag, Nacht und Dämmerung.
Auch was die Musik angeht überzeugt Marvel’s Spider-Man. Die Musik wirkt typisch heroisch, aber ohne im Einheitsbrei der Superhelden-Motive unterzugehen. Sie wagt sich in dramatischen Höhepunkten nach vorne zu drängen und die Emotionen des Spielers zu untermalen, sie behält es sich aber auch vor gerne mal die Figuren des Spiels oder die Geräuschkulisse der Stadt für sich stehen zu lassen. Es gibt jedoch nur ein Stück, das wirklich auch nach Spielschluss einem im Kopf bleibt.