Die Welt der Aufbaustrategiespiele ist vor allem in den letzten Jahren enorm gewachsen. Noch heute, vor allem durch die Hilfe von Indie-Entwicklern, stößt es weiter und weiter in unbekannte Gebiete vor, setzt immer neue und brillant kreative Ideen in Aufbaumechaniken um, mal herausfordernd, mal eher locker und immersiv. Ein Frostpunk beispielsweise mischt Survival-Elemente in sein postapokalyptisches Eis-Setting, ein Cities: Skylines lässt den Spieler eine sehr verflochtene Metropole aufbauen, Anno 1404 schwebt mit seiner tollen historischen Atmosphäre und seiner unglaublichen Tiefe immer noch an der Spitze des Genres. Wir leben in einer Renaissance der Aufbauspiele. Die Möglichkeiten dieses vorher schwächelnden Genres scheinen heutzutage schier unendlich und mit jedem weiteren Spiel wird es in seiner konzeptuellen Vielfalt größer und größer.
Mit Anno 1800 erscheint der siebte Teil eines Giganten dieses Genres. Doch Anno 1800 stößt nicht unbedingt in völlig neue Ebenen der Kreativität vor, sondern kehrt eher zu seinen alten Wegen zurück. Nach den für die Reihe unkonventionellen Ausflügen, die Anno 2070 und vor allem Anno 2205 waren und damit auch etwas vernommen bei den Spielern ankamen, kehrt Blue Byte nun zu seinem historischen Setting und somit zu seinen Stärken zurück. Doch selbst in diesem altbekannten Rahmen gibt es noch viel herauszuholen. Schafft es Blue Byte mit Anno 1800 in die neue Welt der Aufbaustrategie vorzustoßen?
Stille Wasser sind… seicht
Als erstes gilt es etwas aus dem Weg zu schaffen, was nie zu den Stärken der Reihe gehörte. Die Geschichte in Anno 1800 ist wieder mehr zweckmäßig als wirklich substanziell. Sie dient eher als eine Art Tutorial als wirklich eine interessante Narrative mit spannenden Figuren und Konflikten aufzubauen. Die Geschichte versucht den Spieler mit einem Familienkonflikt und einem gewissen Rachemotiv früh emotional einzubinden. Sie liefert dabei sogar dem namenlosen, persönlichkeitslosen Protagonisten eine Schwester, die als Komplizin gegen den bösen Onkel als Emotionspol dienen soll. Doch sowohl die Geschichte selbst als auch die Figuren darin verkommen sehr schnell zu einem seichten, beinahe unhörbaren Plätschern eines kleinen Baches außerhalb der riesigen Industrie, die sich der Spieler aufbaut.
Natürlich ist die Geschichte niemals der Kernpunkt eines Anno Spieles gewesen. Es ist offensichtlich, dass Blue Byte selbst inszenatorisch seine Geschichte stark zurücknimmt und damit auch signalisiert, dass diese wirklich nur als eine Art loser, dünner roter Faden fungieren soll. Mit Ausnahme weniger Zwischensequenzen, die eher einfache Kamerafahrten über die Welt sind, erzählt sich die Story hier in einfachen Textboxen und abwechslungsreichen Quests, die der Spieler erhält. Aber dennoch kommt man nicht umhin, jedes Mal ein gewisses vergebenes Potenzial in der Story zu sehen, vor allem auch weil die großartige Atmosphäre und die sonstige brillante Inszenierung von Anno 1800 eine perfekte Basis dafür liefern würden.
Die altbekannte Zwiebel
Wo Anno 1800 wieder besonders heraussticht ist in ebenjenem Aufbaugameplay. Das Spiel trifft wieder alle Noten perfekt: Schritt für Schritt gräbt der Spieler tiefer in die Spielmechaniken und entdeckt immer neue, tiefergreifende und komplexer verkettete Schichten. Je mehr Bevölkerungsstufen der Spieler freischaltet, je mehr Gebäudearten, Produktionsketten er entdeckt, desto besser und größer wird Anno 1800, aber ohne dabei wie der Vorgänger gewissermaßen überladen und fast schon abstrus zu wirken. Dabei wird es aber doch klar, dass dieses Spiel mit Sicherheit gewisse Elemente seiner umstrittenen Vorgänger geerbt hat. Wie in Anno 2205 können hier gewisse Produktionsketten und damit der Organisationsaufwand für den Spieler riesige Ausmaße annehmen. Aber hier hält sich alles in einem gewissen konzeptuellen Rahmen und damit Kohäsivität. Dies kann aber dennoch gewisse Typen von Spielern an den Rand der Überforderung und vielleicht sogar darüber hinaus bringen. Wer die Anno-Reihe bisher eher wie ein lockereres, hauptsächlich atmosphärisches Spiel wahrgenommen und gespielt hat, wird wohl an diesen hochkomplexen und massiven inneren Verkettungen der Spielelemente etwas zurückweichen.
Doch wenn man sich dafür gewappnet fühlt, ist hier der gesamte Aufbau wunderbar intuitiv, ohne an ebendieser Komplexität einzubüßen. Selbst die typische zusätzliche Welt, die man neben dem europäischen Setting besiedeln kann, hier eine Art südamerikanische Kolonie, erweitert die Atmosphäre und die Vielfalt des Spiels erneut um enorme Maße, aber ohne es zu ausschweifend zu machen oder unpassend wirken.
Anno 1800 führt gewisse neue Elemente ein, die teilweise großartig funktionieren, teilweise etwas seltsam wirken. Beispielsweise kann man nun nicht mehr seine gesamte Bevölkerung, ohne darüber nachzudenken auf die nächste Stufe aufwerten, sondern muss beachten, dass gewisse Produktionen jeweils Arbeiter der passenden Bevölkerungsstufe benötigen. Ein Bauer kann nicht in einer Kohlefabrik arbeiten, ein Arbeiter nicht auf dem Feld. Dies macht die Welt, die sich der Spieler aufbaut, noch greifbarer und befriedigender, die Mechaniken noch tiefergreifend. Ein Element, was aber beispielsweise etwas deplatziert wirkt sind die neuen Expeditionen. Das Konzept passt natürlich in die Zeit des 18. Jahrhunderts, eine Zeit der Entdeckung, der Erweiterung des Weltbildes des Menschen. Jedoch sind diese Expeditionen hier erneut in Form von Textboxen gestaltet, was das Feature dezent untergräbt. Es wird schnell repetitiv und vermag das Interesse des Spielers nach kurzer Zeit nicht mehr zu greifen. Allein die Belohnungen, die davon resultieren sind attraktiv. Hier hat man inszenatorisches, sowie spielerisches Potenzial vergeben.
Anno 1800 besitzt ebenfalls ein gewisses Schiffskampfsystem, welches aber doch hinter allen anderen Mechaniken hinterherhinkt und in seiner Tiefe und Spielqualität unpassend wirkt. Außerdem resultiert das teilweise schlecht balancierte Diplomatie-System und die hakeligen Schiffskämpfe darin, dass sich jegliche Auseinandersetzungen mit den anderen Mächten auf der Karte eher schwach und der sonstigen Spielerfahrung hinderlich anfühlen. Zum Glück kann man aber in den Einstellungen ein friedliches Spiel auswählen, was all diese Probleme löst, den Kampf aber natürlich fast vollständig aus dem Spiel nimmt.
Die Glocken läuten für das neue Zeitalter
Abgesehen von diesen vorhin erwähnten, wirklich kleinen inszenatorischen Makeln ist Anno 1800, was seinen Detailgrad und grafische sowie atmosphärische Präsentation angeht, die neue Spitze des Genres. Der Wuselfaktor ist genial wie eh und je, die Gestaltung der einzelnen Gebäude und der Menschen auf den Straßen oder bei ihrer Arbeit unglaublich. Selbst wenn man die schiere Größe, Vielfalt und Vielschichtigkeit der Welt betrachtet, die man sich hier aufbaut, lässt Anno 1800 in seiner Präsentation niemals nach, auch technisch nicht.
Zusätzliche Beachtung soll hier noch die Musik finden, die ebendiesen Detailgrad und Präsentation auf eine noch höhere Stufe hebt. Die Musik ist brachial, immer im Vordergrund, aber niemals repetitiv oder nervig. Sie führt den Spieler in ihrer Epik und Größe in dieses neue Zeitalter der Entdeckung, der Abenteuer auf der Neuen Welt, der damaligen Aufregung für die Entdecker des Westens.